Amsterdam by McEwan Ian

Amsterdam by McEwan Ian

Autor:McEwan, Ian [McEwan, Ian]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 978-3-257-60326-2
Herausgeber: Diogenes Verlag AG
veröffentlicht: 2013-11-20T16:00:00+00:00


[111] IV

[113] 1

Rose Garmony wachte um sechs Uhr dreißig auf, und noch bevor sie die Augen aufschlug, mußte sie an die Namen dreier Kinder denken, die ihr auf der Zunge lagen: Leonora, John, Candy. Darauf bedacht, ihren Mann nicht zu wecken, stieg sie vorsichtig aus dem Bett und griff nach ihrem Morgenrock. Am Vorabend hatte sie als letztes noch einmal ihre Notizen durchgelesen und am Nachmittag Candys Eltern getroffen. Die anderen beiden Krankheitsfälle waren Routineangelegenheiten: eine diagnostische Bronchoskopie infolge der Aspiration einer Erdnuß und die Einführung eines Brustdrains wegen eines Lungenabszesses. Candy war ein stilles, kleines westindisches Mädchen, dessen Haar von seiner Mutter während der eintönigen Routine einer langen Krankheit immer wieder zurückgekämmt und mit Bändern geschmückt worden war. Der Eingriff am offenen Herzen würde mindestens drei, möglicherweise fünf Stunden in Anspruch nehmen, bei ungewissem Ausgang. Der Vater, dem ein Lebensmittelladen in Brixton gehörte, hatte einen Korb mit Ananas, Mangos und Weintrauben in die Sprechstunde mitgebracht – ein Sühneopfer für den grimmigen Gott des Skalpells.

Die Küche war vom Duft dieser Früchte erfüllt, als Mrs. Garmony auf bloßen Füßen eintrat, um Wasser aufzusetzen. Während sich das Wasser erhitzte, lief sie durch die [114] schmale Diele der Wohnung zu ihrem Arbeitszimmer und packte ihre Aktentasche. Dabei hielt sie inne, um noch einmal einen Blick auf ihre Notizen zu werfen. Sie rief den Parteivorsitzenden zurück, danach schrieb sie ihrem erwachsenen Sohn, der im Gästezimmer schlief, einen Zettel. Anschließend ging sie wieder in die Küche, um den Tee aufzubrühen. Sie nahm ihre Tasse mit ans Küchenfenster und spähte, ohne die Spitzengardine zu bewegen, hinunter auf die Straße. Auf dem Gehsteig der Lord North Street zählte sie acht Personen, drei mehr als um dieselbe Zeit am Vortag. Von Fernsehkameras oder von den Polizeibeamten, die der Innenminister persönlich versprochen hatte, war nichts zu sehen. Sie hätte dafür sorgen sollen, daß Julian in Carlton Gardens übernachtete statt hier in ihrer alten Wohnung. Angeblich waren alle diese Leute Rivalen, dabei standen sie in einer lockeren Gesprächsrunde beisammen, wie Männer an einem Sommerabend vor einem Pub. Einer von ihnen kniete auf dem Boden und befestigte etwas an einer Aluminiumstange. Dann stand er auf und ließ seine Augen über die Fenster wandern. Er schien sie zu bemerken. Sie beobachtete ihn ausdruckslos, als plötzlich eine Kamera auftauchte und auf sie zugefahren kam. Als diese fast auf einer Höhe mit ihrem Gesicht war, trat sie vom Fenster zurück und ging nach oben, um sich anzukleiden.

Eine Viertelstunde später lugte sie noch einmal verstohlen nach unten, diesmal vom Wohnzimmerfenster aus, zwei Stockwerke höher. Sie fühlte sich genauso, wie sie sich vor einem schwierigen Arbeitstag im Kinderkrankenhaus gern fühlte: gelassen, hellwach, darauf bedacht, mit der Arbeit zu beginnen. Am Vorabend keine Gäste, zum Abendessen [115] keinen Wein, eine Stunde über ihren Notizen, sieben Stunden ungestörten Schlafes. Durch nichts würde sie sich von dieser Stimmung abbringen lassen, und so blickte sie gebannt, aber beherrscht auf die Gruppe, die inzwischen auf neun Personen angewachsen war. Der Mann hatte seine ausfahrbare Stange zusammengeschoben und gegen das Geländer gelehnt. Ein anderer brachte ein Tablett mit Kaffee von der Imbißstube in der Horseferry Road.



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